Ein Hund aus dem Tierschutz soll es sein. Ein Vierbeiner, der bislang im Tierheim gesessen hat oder als Straßenhund im Ausland gelebt hat. Einem Tierschutzhund eine Chance geben – ein Traum für viele zukünftige Hundehalter. Doch dieser Traum kann zerplatzen wie eine Seifenblase. Wieso das passieren kann und wie man trotzdem dem Tier ein stressfreies Leben bieten kann, erfahrt ihr in diesem Artikel.

Der Hund aus dem Ausland – was den Start so schwierig macht

Schauen wir uns einmal an, wie die Hunde im Ausland gehalten werden:

Sie leben als Hofhunde, die das Grundstück vor anderen Zwei- und Vierbeinern bewachen sollen, sie werden zur Jagd eingesetzt, wie beispielsweise die Galgos oder Podencos und häufig leben sie einfach auf der Straße. Was alle gemeinsam haben: sie sind in einer komplett anderen Umwelt aufgewachsen als unsere Haushunde! 

 

Hund aus dem Ausland

Häufig kennen sie kein städtisches Leben, sie sind auf dem Land ohne großen Straßenverkehr aufgewachsen. Sie haben nie eine Wohnung oder ein Haus von innen gesehen. Fremde Menschen waren bislang eher eine Bedrohung als eine Bereicherung des Alltags. Sie kennen kein Halsband, Brustgeschirr oder Leine und erst recht keine Zweibeiner als Bezugsperson. Die tägliche Mahlzeit wird sich aus dem Abfall der Menschen zusammen gesucht, dabei muss man seinen Anteil gegen die Mitstreiter verteidigen. Ein komplett anderes Leben also. Und genau dieser Hund wird nun im Extremfall nach Frankfurt in die Innenstadt vermittelt. Man könnte meinen, der Hund sollte doch jetzt dankbar sein, dass er ein Sofa und regelmäßige Mahlzeiten zur Verfügung hat. Aber: weit gefehlt!

Denn: das ist ein krasser Kulturschock, der für den Hund aus dem Tierschutz viele Bedrohungen mit sich bringt!

Lernen ist Anpassung an die momentane Umwelt

Aus biologischer Sicht macht es Sinn, dass ein Tier an die Umwelt, in der es lebt, optimal angepasst ist. Das kann überlebensnotwendig sein! Aus diesem Grunde gibt es während der Jugendentwicklung Zeitabschnitte, in denen sich das Gehirn sehr leicht umstrukturieren kann. Es passt sich an die Umweltbedingungen an: es lernt, welche Bedrohungen man besser meidet, wo es Nahrung und Fortpflanzungspartner gibt, zu welchen Zeiten man sicher unterwegs sein kann, welche Umweltreize „normal“ sind und von welchen eher eine Bedrohung ausgeht. An diese Umgebung ist das Tier optimal angepasst. Die beste Voraussetzung um ein langes, halbwegs sicheres Leben in dieser Umgebung zu führen.

Und nun kommen wir Menschen auf die Idee, das Tier von einer Umwelt in eine komplett andere zu verfrachten! Mit allen Vor- und Nachteilen, die es mit sich bringen kann: neue Bedrohungen, ein anderes Klima, eine geänderte Tagesstruktur, das Fehlen aller Bindungspartner. Das ist ein krasser Einschnitt für unsere Tiere! Und das gilt erst einmal genauso für den Hund vom Züchter als auch für den Hund aus dem Tierschutz. Mit einem Unterschied: ein seriöser Züchter hat sich zumindest bemüht, den Hund an alle Eventualitäten des Lebens vorzubereiten. Dagegen wird der Tierschutzhund ohne Vorwarnung ins „kalte Wasser geschmissen“. 

Die gute Nachricht: Lernen findet immer statt, auch wenn es nicht mehr so einfach ist, wie in den ersten Lebensmonaten. Auch ein erwachsenes Tier kann Umlernen. Das stimmt! Und natürlich kann auch ein Tierschutzhund lernen, in der neuen Umgebung klarzukommen.

Voraussetzungen, die dem Tierschutzhund helfen, besser mit seiner neuen Umwelt klarzukommen:

  1. Zeit
  2. ein sicheres neues Zuhause
  3. Erwartungssicherheit – ein geregelter Alltag
  4. Lernen im eigenen Tempo
  5. gute Lerngelegenheiten

Tierschutzhunde brauchen Zeit – und das nicht zu knapp

Die Vorfreude ist groß, endlich ist der Vierbeiner da, mit dem man stundenlang Spazieren gehen kann, mit dem man in die Hundeschule gehen kann und vielleicht sogar Hundesport machen kann. Ein Hund, den man knuddeln kann, mit dem man spielen kann, der freundlich mit den Kindern ist… diese Liste lässt sich sicherlich noch endlos fortführen.

Und dann: das neue Familienmitglied ist in seiner Transportkiste angekommen, aus der es sich nicht raus traut. Der Vierbeiner reagiert panisch, wenn sich jemand nähert, die Kinder werden vielleicht verbellt oder angeknurrt. Das Tier lässt sich nicht anfassen und kann nur nachts fressen, wenn alles ruhig ist. Du denkst das ist ein Einzelfall? Leider nein!

 

Straßenhund

Und trotzdem: es kann gehen, das neue Familienmitglied kann sich anpassen, wenn man ihm genügend Zeit gibt und es im eigenen Tempo lernen lässt. Erst einmal muss er lernen, dass das neue Zuhause ein sicherer Rückzugsort ist.

Das sichere neue Zuhause

Du kannst es dir bestimmt denken: erst einmal ist an Gassi gehen gar nicht zu denken. Der Hund muss erst einmal in der neuen kleinen Welt, nämlich das Haus oder die Wohnung, ankommen.

Jeder Hund – egal ob aus dem Tierschutz oder vom Züchter, braucht einen Rückzugsort, an dem er sich sicher und wohl fühlt. Das ist immer der erste Schritt! 

Hier gibt es vielleicht noch ein bisschen Geruch aus der alten Welt, hier kann man sich in Ruhe zurückziehen. Hier ist man sicher vor Gefahren – eingeschlossen der im Haushalt lebenden Menschen, denn auch die stellen erst einmal eine potentielle Gefahr da! An diesem Ort ist es gemütlich, hier gibt es die Mahlzeiten und den ein oder anderen Kauartikel. Ganz wichtig! Zieht sich der Hund in seinen Bereich zurück, wird er nicht gestört oder belästigt! Es ist wie eine Hola-Zone, wo er sich eine Auszeit nehmen kann. Auch wenn das heißt, dass der Hund vielleicht die ersten Wochen nur nachts diese Zone verlässt!

Arbeit mit Tierschutzhunden heißt extrem kleinschrittiges Training

Natürlich sollte Training immer kleinschrittig erfolgen, ohne Frage. Allerdings bekommt kleinschrittiges Training bei einem Hund aus dem Ausland noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Warum? Diese Hunde sind nicht darauf selektiert, mit dem Menschen zusammen zu arbeiten. Sie sind nicht gewöhnt, für Leckerchen zu arbeiten und häufig ist auch Futter aus der Hand des gruseligen Menschen für diese Hunde nicht wirklich eine Belohnung.

Bevor ich also überhaupt beginnen kann zu trainieren, muss der Vierbeiner erst einmal lernen, Belohnung vom Menschen anzunehmen! Hier nutze ich erst einmal die Zeitfenster, an denen mein neues Familienmitglied ohnehin seine Futterration erwartet. Du merkst schon: der strukturierte Alltag macht sich bezahlt!

Auch der Gassigang wirft viele Probleme auf: vielleicht will der Schützling gar nicht die sicheren vier Wände verlassen? Möglicherweise sind alle Form von Begegnungssituationen und der Straßenverkehr extrem gruselig und überfordern den Hund. Du merkst schon: auch hier hilft eine gewisse Struktur:

geh erst einmal immer die gleichen Strecken und möglichst in Bereichen, wo nicht viel los ist. Möchte dein Hund nicht weiter, zwing ihn nicht! Dann dreht ihr eben wieder um und macht zu Hause noch was schönes. Vielleicht könnt ihr ja auch noch ein 2. Mal losziehen oder die Strecke von der anderen Seite aus beginnen. Ihr erpendelt euch also eure Gassistrecken. Vergiss erst einmal Rundwege, sondern geh den gleichen Weg zurück, den ihr gekommen seid. Den kennt der Hund schon, auch hier wird er sich sicherer fühlen!

Gute Lerngelegenheiten schaffen

Erst wenn der Hund sich zu Hause sicher fühlt, er seine neuen Bezugspersonen als zuverlässigen Bindungspartner kennengelernt hat, kann man beginnen, an den schwierigen Situationen zu arbeiten.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: der Vierbeiner möchte nicht an der stark befahrenen Straße lang gehen. 

Alle Voraussetzungen sind geschaffen: der Hund geht in ablenkungsarmer Umgebung mit Gassi, nimmt Futter von der Bezugsperson an, orientiert sich an ihr… Jetzt geh ich bitte nicht sofort an die 4-spurige Hauptverkehrsstraße sondern nehme mir vielleicht erst einmal einen Parkplatz, wo zwar regelmäßig Autos fahren, aber eben langsam. Schafft der Hund das gut, gehe ich vielleicht an eine mäßig befahrene Straße usw. 

Ganz wichtig: die eigentliche Aufenthaltszeit und das Training in diesem Bereich sind nur wenige Minuten! Und: nach Trainingstagen gibt es immer mal wieder Ausgleichstage, an denen nichts Spannendes passiert!

Du merkst, es kann viel aufwändiger sein, einen Hund aus dem Tierschutz zu übernehmen, als du dir eigentlich gedacht hast. Und manchmal stößt man vielleicht trotz des sorgsamen Trainings an seine Grenzen. Es ist kein Beinbruch, sich professionelle Hilfe zu suchen! und manchmal macht es vielleicht auch Sinn, den Vierbeiner von einem Verhaltensmediziner medikamentös unterstützen zu lassen. Denn eins muss klar sein: steht der Vierbeiner unter Dauerstress, kann dass durchaus das Lernen erschweren. Unter Stress ist das Großhirn in seiner Funktion beeinträchtigt, es überwiegt der emotionale Teil des Gehirns! Und damit sind ziemlich schnell die Emotionssysteme Angst und Aggression aktiviert. An das Lernen von alternativen Strategien ist in diesem Modus nicht zu denken!

Habt immer im Hinterkopf: die Arbeit an problematischem Verhalten ist immer auch die Arbeit an den Emotionen! Wenn du dich für das Thema Lernen und Emotionen interessierst, findest du hier weiteres Hintergrundwissen

Möchtest du mehr über Lernen von alternativen Verhaltensstrategien bei der Bearbeitung von Umweltängsten wissen? Dann melde dich hier für mein Webinar: Lernen mit Köpfchen, bei der Bearbeitung von Umweltängsten an! 

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